1996 übernimmt die von-Moos-Gruppe den Stahlbereich der Von Roll. Das Werk in Gerlafingen soll geschlossen werden. Ein Aufstand von Werksleitung und Gemeinde verhindert dies. Mit der Gründung von Swiss Steel mit Sitz in Emmen- brücke erfolgt der Zusammenschluss der beiden Schweizer Stahlproduzenten. Die deutsche Firma Schmolz + Bickenback kauft 2003 Swiss Steel. 2006 verkauft sie ihre Aktienmehrheit an der Stahl Gerlafingen AG an die italienische AFV Beltrame Group aus Vicenza. Der Standort Gerlafingen geht gestärkt aus dem Besitzer- wechsel hervor: Heute ist Stahl Gerlafingen der grösste Recycling-Stahlproduzent der Schweiz.
In Gerlafingen entsteht um 1813 eine erste Hammerschmiede. Der Unternehmer Ludwig von Roll (1771–1839) wählt den Standort an der Emme bewusst: Auf dem Fluss kann das Holz für das Werk einfach aus dem Emmental oder Seeland geflösst werden, Roheisen wird auf demselben Wasser- weg abtransportiert. 1823 wird das Unternehmen in «Gesellschaft der Ludwig von Roll’schen Eisenwerke» umbenannt. 1873 verlegt die Firma ihren Sitz von Solothurn nach Gerlafingen. Ihre Strahlkraft ist schon früh gross: So präsentieren die von Roll’schen Eisenwerke ihre Produkte an den Leistungsschauen 1848 in Bern, an der Weltausstellung 1873 in Wien und an der Landesausstellung 1883 in Zürich.
Während des Ersten und Zweiten Weltkriegs spielt das Werk eine bedeutende Rolle bei der Landesversorgung. Es muss sich dabei schwierigen Bedingungen und Engpässen stel- len. 1916 wird der erste Schmelzofen in Betrieb genommen. Ab 1945 explodiert die Nachfrage nach Stahl dank des Bau- booms. Schweizer Stahl wird zum Rückgrat der modernen Schweizer Infrastruktur. 1962 wird das Stahlwerk in die Von Roll AG umgewandelt. In den 1960er- und 1970er-Jahren, der eigentlichen Blütezeit, arbeiten rund 3000 Personen in Gerlafingen. Ab 1980 belasten der internationale Wettbewerb, der Preis- druck im globalen Stahlmarkt sowie reduzierte Margen das Unternehmen zunehmend.
Ohne Handwerks- und Ingenieurskunst aus Gerlafingen wäre die Entwicklung der modernen Infrastruktur in der Schweiz undenkbar. Bis 1996 steht der Name «Von Roll» in der Schweiz für zentrale Teile von Wirtschaft, Bau, Industrie, Verkehr und Tourismus. Die Von Roll stellt nahezu alles her, was wichtig für den Betrieb eines modernen Staates ist. Die Beiträge dazu kom- men aber längst nicht nur aus Gerlafingen, sondern auch aus den Werken in Klus-Balsthal, Choindez, Rondez, Under- velier, Bern oder Olten. Alles, was für das Wirtschaftswunder in der Schweiz, in Europa oder Übersee benötigt wird – die Von Roll liefert es.
Ein zentraler Beitrag zum Arbeitsfrieden in der Schweiz kommt 1937 aus Gerlafingen. Der Direktor im Stahlwerk Gerlafingen, Ernst Dübi, handelt zusammen mit dem Me- tall-Gewerkschafter Konrad Ilg das Friedensabkommen aus. Ernst Dübi vertritt den damaligen Arbeitgeberverband der Schweizer Metallindustrie. Doch warum einigen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgerechnet 1937 auf das wegweisende Abkommen? Entsprechend der autoritären Haltung der Zeit droht ein Ein- greifen des Staates. Das wollen Ernst Dübi und Konrad Ilg verhindern. Das Friedensabkommen prägt die Entwicklung der GAV- Landschaft in der Schweiz entscheidend.
Die Zeit des Wirtschaftswunders braucht Arbeiter. Diese werden vom Stahlwerk direkt in ihren Heimatdörfern rekru- tiert, viele in Italien. Es ist die Zeit des Saisonnierstatuts, die Arbeitskräfte sollen hier nicht sesshaft werden und müssen jedes Jahr zurück in ihre Heimat. Immerhin bekommen viele Arbeiter des Stahlwerks Jahresarbeitsverträge und dadurch später die Niederlassungsbewilligung. Ein erster Schritt in Richtung Integration. Mitentscheidend für eine erfolgreiche Integration ist ein si- cherer Arbeitsplatz. Das kann das Stahlwerk seinen Mit- arbeitenden bieten. Viele immigrierte Arbeitskräfte bleiben dem Unternehmen lange Jahre und bis zu ihrer Pensionie- rung treu.
Die AFV Beltrame Group gehört zu den Leadern in der europäischen Stahlindustrie – mit Werken in Italien, Frankreich, Rumänien und in der Schweiz. Der Klimawandel stellt uns vor grosse Aufgaben. Besonders die energieintensiven Stahlwerke müssen Träger des Wan- dels sein. Die AFV Beltrame Group will die Ziele des Green Deals der Europäischen Union bis zum Jahr 2050 vollstän- dig erfüllen. Die Schweiz setzt sich ähnliche Ziele. Das erreichen wir nur über Beiträge der ganzen europäi- schen Stahlindustrie. Für Gerlafingen bedeutet das, dass wir mit strategischen Investitionen und Innovationen dafür sorgen, massiv energieeffizienter und CO2-ärmer zu produzieren.